K. Kollmar-Paulenz: Kleine Geschichte Tibets

Title
Kleine Geschichte Tibets.


Author(s)
Kollmar-Paulenz, Karénina
Published
München 2006: C.H. Beck Verlag
Extent
215 S.
Price
EUR 12,90
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Evelyn Gottschlich, GCSC, Universität Gießen

Bücher über Tibet gibt es unzählige, Bücher über tibetische Geschichte weniger. Die meisten Standardwerke wurden und werden in Englisch veröffentlicht, einige schließlich ins Deutsche übersetzt.1 Einige auf Deutsch erschienen Publikationen sind entweder sehr religionsgeschichtlich angelegt oder auf das Ziel hin, Tibets Unabhängigkeit zu bestätigen und China zu verurteilen. Karénina Kollmar-Paulenz ist zwar Religionswissenschaftlerin, ihre historiographische Darstellung distanziert sich jedoch wohltuend von den häufig einseitig auf den Buddhismus zugeschnittenen Darstellungen: Die Verbreitung des Buddhismus ist hier ein Teil der tibetischen Vergangenheit, eingebettet in die frühere Kultur Tibets und den fortwährenden politischen und kulturellen Wandel Zentralasiens.

Kollmar-Paulenz wendet sich mit "Kleine Geschichte Tibets" an Interessierte und Studenten der "Tibetologie und angrenzender kultur- und geschichtswissenschaftlicher Disziplinen" (S. 11). Mit ihrem Buch versucht sie, "eine Geschichte Tibets jenseits populärer Mythen zu schreiben" (S. 10). Das ist ihr sehr gut gelungen.

In sieben Kapiteln betrachtet sie die Geschichte Tibets vom 7. Jahrhundert bis heute. Die Darstellung ist zwar knapp, aber rund und zeichnet für die weniger Kundigen ein vielseitiges Bild der kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Entwicklung Tibets.

In der Einführung skizziert die Autorin die Geographie Tibets und die Ursprünge des tibetischen Volkes, die mindestens 4.000 Jahre alt sind (S. 15-16). Daneben beleuchtet sie kurz die Kontakte der Europäer zu Tibet seit dem Mittelalter (S. 18-21).

Der chronologische Abriss beginnt mit dem tibetischen Großreich – der Zeit, in der Personen und Strukturen historiographisch greifbar werden. Kollmar-Paulenz führt als Quellen für die frühere tibetische Geschichte vor allem die Dunhuang- Manuskripte (10. Jahrhundert), daneben chinesische Schriften und die eher narrative Historiographie der Tibeter (ab 12. Jahrhundert) an, die spätestens ab dem 14. Jahrhundert eine hauptsächlich auf den Buddhismus ausgerichtete Version liefert (S. 25-26). Aus diesen Quellen lässt sich Tibet zwischen dem 7. und dem 9. Jahrhundert als eine zentralasiatische Großmacht rekonstruieren, die mit den Nachbarvölkern erfolgreich um Land und Vorherrschaft rang. Zur Zeit seiner größten Ausdehnung in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts erstreckte sich Tibet vom Tarim-Becken im Westen bis ins heutige Sichuan im Osten, von Nordindien im Süden bis nach Turfan und Dunhuang im Norden (vgl. auch S. 13). Die Tibeter standen mit Chinesen, Mongolen, Arabern und über diese auch mit den Griechen und Römern in Verbindung (S. 54-55).

Nach dem Ende der Yarlung-Dynastie, die den ersten Versuch unternommen hatte, den Buddhismus in Tibet zu etablieren, entstanden zwischen dem 10. und 12. Jahrhundert lokale Fürstentümer (Kap. 2). Auch diese Periode, die eher kurz abgehandelt wird, war durch die Ausbreitung des Buddhismus gekennzeichnet. Jedoch zeigt Kollmar-Paulenz hier und an anderen Stellen auf, was mythische Überlieferung ist und was historiographische Resultate sind – sie tut dies jedoch nicht auf negative, entlarvende Weise, sondern erklärt vielmehr den historischen Kontext und mögliche Ursachen für die Mythenbildung (vgl. S. 48-50, S. 62, S. 73-75).

Die Beziehung der Tibeter zu den Mongolen entspringt der mongolischen Eroberung Tibets im 13. und 14. Jahrhundert (vgl. Kapitel 3 und 4). Der Autorin gelingt es trefflich, die Gesellschaftsstrukturen deutlich zu machen, die durch die politisch-religiöse Verbindung der Tibeter zu den mongolischen Herrschern entstanden. So verliehen zum Beispiel die Mongolenherrscher im 16. Jahrhundert zum ersten Mal den Titel des "Dalai Lama" (S. 104-106). Die Beziehungen zwischen mongolischen Fürsten und tibetischen Adelsfamilien und Klöstern waren keineswegs einseitig – die Mongolen als "Gabenherren" boten den Tibetern militärischen Schutz und finanzielle Unterstützung gegen spirituelle Betreuung und Dienstleistungen (S. 81-82).

Ab dem 15. Jahrhundert stehen in Kollmar-Paulenz' Darstellung der Dalai Lama und einige andere Regenten im Vordergrund. Diese Geschichte der großen Männer wird ergänzt durch kurze Abstecher in die Geschichte Lhasas (S. 114-118), der Europäer in Tibet (S. 127-128) und einiger religionsgeschichtlich bedeutender Ereignisse (etwa der Rime-Bewegung, S. 132-134).

Die Biographie des 13. Dalai Lama steht im Zentrum eines weiteren Kapitels (S. 134-150). Sein Leben war von der Interaktion Tibets mit den Nachbarstaaten und dem Westen sowie von Modernisierungsbestrebungen innerhalb Tibets geprägt. Im 5. Kapitel schildert Kollmar-Paulenz, wie die Chinesen Unruhen und Unstimmigkeiten unter den Tibetern für sich nutzen konnten und Tibet schließlich besetzten (S. 148-150). Die Entwicklung Tibets unter chinesischem Einfluss ab 1950 beschreibt die Autorin in verschiedenen Perioden: Schien das 17-Punkte-Abkommen von 1951 noch eine Möglichkeit für die Tibeter zu bieten, ihre kulturelle Eigenständigkeit zu bewahren, wurde rasch klar, dass China dies anders verstand. Nach der Flucht des Dalai Lama nach Indien 1959 brach der Widerstand der tibetischen Bevölkerung zusammen, den es im Osten Tibets schon seit 1949 gegeben hatte. In den 1960er- und 1970er-Jahren wurde während der Kulturrevolution systematisch auch die traditionelle Kultur der Tibeter zerstört. Erst nach dem Tod Mao Zedongs trat eine Phase der Entspannung ein; Klöster wurden wieder aufgebaut und religiöse Praktiken eingeschränkt erlaubt. Nach dem tibetischen Aufstand von 1989 wurde die chinesische Politik wieder rigider (S. 169-170). Seitdem soll die tibetische Bevölkerung vor allem durch den Zuzug chinesischer Siedler und durch die Kontrolle der religiösen Autoritäten durch die chinesische Regierung nieder gehalten werden. (S. 170-172).

Karénina Kollmar-Paulenz gelingt es, die wichtigsten Diskussionsthemen, die Interessierte und Forscher zu Tibet beschäftigen, in ihr Buch einfließen zu lassen. Zum einen weist sie zu Beginn auf den „Mythos Tibet“ hin, das heißt auf die verengende Betrachtung Tibets als „verlorenes Paradies“, die das westliche Tibetbild bis heute prägt (S. 21-24).

Zum anderen widmet sie die letzten Seiten des Buches der Geschichte der tibetischen Exilanten (vgl. Kap. 7) und geht dabei auf die Kontroverse um die Schutzgottheit Dorje Shugden ein, welche die Anhänger der Gelugpa-Schule des tibetischen Buddhismus weltweit spaltet (S. 176-178). Hier wie auch an anderen Stellen deutet die Autorin auf die weiter gehende Bedeutung hin, die einzelne historischer Situationen für die kulturelle Identität der Tibeter bis heute besitzen. Die Beispielbiographie eines tibetischen Reformers, Gendün Chöpel, könnte dem an Tibet interessierten Leser vertraut sein, wurde dieser doch durch den Film „Angry Monk“ (2005) einem breiteren Publikum bekannt (S. 155-158).

Mit diesem Buch ist es Karénina Kollmar-Paulenz gelungen, einen Überblick der tibetischen Geschichte zu liefern, der anschaulich und sehr gut lesbar ist und die wesentlichen Aspekte umfasst.

Wie bei einer so knappen Ausführung kaum anders möglich, gibt es Kapitel, die sich vorwiegend auf einen geographischen Teil Tibets konzentrieren. Die Autorin weist im Vorwort darauf hin, dass sich die Darstellung hauptsächlich auf Zentralasien konzentriert, dass aber die weit verbreitete Vorstellung eines zentralistischen Tibet höchstens zwischen 1913 und 1950 realistisch ist. Selbst in dieser Zeit habe die Regierung in Lhasa nur geringen Einfluss auf Osttibet gehabt (S. 10-11).

Genauso natürlich ist es bei der Kürze des Buches, dass bei einzelnen Themen die Darstellung an der Oberfläche bleibt. Das den Kapiteln zugeordnete Literaturverzeichnis (S. 186-189) bietet hier Anknüpfungspunkte zur weiteren Vertiefung. Der Endnoten hätten etwas dichter gesetzt werden können. Kollmar-Paulenz kommt dem Leser entgegen, indem sie tibetische Begriffe im Text in einer Umschrift angibt, die sich an der modernen Aussprache orientiert. Gleichzeitig stellt sie aber auch die Tibetischkundigen durch ein Verzeichnis der wissenschaftlichen Transliteration in die Wylie-Umschrift zufrieden (S. 203-208).

Im Anhang bietet das Buch weiterhin drei Karten (S. 190-191), eine ausführliche Zeittafel (S. 192-199), eine Liste der Dalai Lamas und Panchen Lamas (S. 200), ein Glossar (S. 201-202) und ein Personen-, Orts- und Sachregister (S. 209-216). So ist die „Kleine Geschichte Tibets“ nicht nur als Einführung für Unkundige bestens geeignet, sondern auch als Referenzwerk, das man immer wieder gerne zur Hand nimmt.

Anmerkung:
1 Als Standardwerke gelten zum Beispiel David L. Snellgrove / Hugh Richardson: Cultural History of Tibet, 3. Aufl. London 2004 (zuerst 1968); Rolf A. Stein: La civilisation tibétaine, Paris 1962 (englisch: Tibetan Civilization, Stanford 1972, deutsch: Die Kultur Tibets, Berlin 1989) und neuerdings Matthew T. Kapstein; The Tibetans, Cambridge 2006.

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28.10.2008
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